Link kopieren | 18. Juli 2025
©Ralph Freibeuter
Ein philosophischer Nachklang
Dieser Tage sprach der Radiomoderator von der Mengenlehre, die kurz nach ihrer Einführung bereits wieder aus dem Schulunterricht verschwand. Damals in den 70er Jahren saßen Eltern ratlos vor den Hausaufgaben ihrer Kinder, unfähig ihnen dabei zu helfen, Lehrer waren unzureichend ausgebildet – in diesem Moment, schweifte meine Aufmerksamkeit ab und ich begann, über die tiefere Bedeutung dieses Verlustes nachzusinnen.
Die Mengenlehre, so scheint es, war mehr als ein trockenes Gefüge aus Zahlen und Symbolen. Sie war ein leiser, doch mächtiger Lehrer, der uns nicht nur Mathematik, sondern Menschsein lehrte. Sie schenkte uns ein Werkzeug, um das eigene Selbst zu formen, ein Bewusstsein für unsere Einzigartigkeit zu entwickeln – und zugleich unsere Verbundenheit mit anderen zu erkennen. Wie aber, so fragt sich der Zweifelnde, können Zahlen und Mengen, kalte Konstrukte der Logik, mit dem warmen Puls des menschlichen Bewusstseins verwoben sein? Liegt hier nicht ein Abgrund zwischen der starren Welt der Mathematik und der fließenden Seele des Individuums?
Ich glaube, nein. Lass mich diesen Faden aufnehmen und weben, bis das Muster sichtbar wird.
Der Mensch kommt in die Welt mit einer Gabe, die zugleich eine Aufgabe ist: dem Spiegeln. Dieses Spiegeln ist kein bloßes Nachahmen, sondern ein tiefes Schauen in den Anderen, ein Erkennen des Selbst im Gegenüber. Wie ein stiller See, der das Antlitz des Himmels trägt, so spiegeln wir uns in den Augen, Worten und Taten derer, die uns umgeben. In diesem Akt des Spiegelns finden wir Bestätigung und Nähe oder Widerstand und Fremde. Wir suchen instinktiv die Gesellschaft derer, die uns ähneln – die unsere Überzeugungen teilen, unsere Werte tragen, unsere Wahrheit spiegeln. Sie sind wie ein wohltuender Klang, der in uns nachhallt. Doch ebenso meiden wir jene, deren Spiegelbild uns verstört, die uns zeigen, was in uns wankt oder bricht. Der Andere, so erkennen wir, ist ein Fenster zu unserer eigenen Seele, ein Maßstab unserer inneren Welt.
Und hier, in dieser Bewegung des Spiegeln, öffnet sich die Tür zur Mengenlehre. Denn was ist das menschliche Miteinander anderes als ein Tanz der Mengen? Da ist die Menge des „Ich“, jenes fragile, einzigartige Selbst, das sich in der Welt zu behaupten sucht. Und da ist die Menge des „Anderen“, jene, die uns herausfordert, uns befragt, uns formt. In den großen und kleinen Kämpfen unserer Zeit – in den Debatten, die unsere Welt spalten – sehen wir immer wieder dieses Spiel der Mengen: „Wir“ gegen „die Anderen“, die Richtigen gegen die Falschen, die Guten gegen die Bösen. Doch die Mengenlehre, in ihrer stillen Weisheit, flüstert uns eine andere Wahrheit zu: Jene, die anders denken, anders glauben, anders lieben, sind keine fremde Menge. Sie sind Teil derselben großen Menge – der Menschheit.
Hierin liegt das wahre Drama des Verlusts der Mengenlehre. Wir haben vergessen, dass die scheinbaren Gegensätze – das „Wir“ und „die Anderen“ – bloß Schnittmengen sind, vereint in der großen Einheit der menschlichen Familie. Die Mengenlehre hätte uns lehren können, dass Unterschiede keine Trennung bedeuten, sondern eine Bereicherung. Sie hätte uns zeigen können, dass jede Teilmenge, so verschieden sie auch scheint, in der großen Menge des Menschseins verwurzelt ist.
Und so kehre ich zurück zu jenem Satz, der wie ein leiser Ruf durch diese Gedanken hallt: „Der Mensch wird mit der Fähigkeit oder besser der Aufgabe des Spiegelns geboren.“ In diesem Spiegeln liegt der Schlüssel zu unserem individuellen Selbst. Wir lernen, wer wir sind, indem wir uns im Anderen sehen – in seiner Ähnlichkeit wie in seiner Andersheit. Doch die wahre Meisterschaft des Menschseins besteht darin, dieses Spiegeln zu überwinden. Die Mengenlehre, wenn wir sie nur zu lesen verstünden, lehrt uns, das Individuum zu ehren, ohne den anderen zu entfremden. Sie lädt uns ein, die Grenzen zwischen „Ich“ und „Du“ aufzulösen und die große Menge der Menschheit zu umarmen – nicht als uniformes Ganzes, sondern als ein lebendiges Gefüge, in dem jedes Element, jedes Individuum, seinen unverwechselbaren Platz hat.
Der Verlust der Mengenlehre ist mehr als der Abschied von einem Lehrplan. Es ist der Verlust einer Haltung, einer Weisheit, die uns hätte lehren können, in der Vielfalt die Einheit zu sehen. Vielleicht ist es an der Zeit, dieses alte Lied wieder zu singen – nicht nur in den Klassenzimmern, sondern in unseren Herzen.
Autorin und Copyright: Karin Freibeuter (2025)
BewusstTalk am 11. April bei Anne / Polarität, Dualität, Dualismus
BewusstTalk am 30. August bei Anne / ACT! Poetry Meets Music
BewusstTalk am 17. Mai bei Anne / Gastmoderation Psychisches Trauma
Spieglein, Spieglein an der Wand, mein Schicksal in deiner Hand
Die Nachlese zur Bewusstseins-Schnitzeljagd vom 22. Oktober ist erstellt